Viele von Ihnen wissen, dass ich seit Jahren ehrenamtlich stark engagiert bin bei dem Projekt Leonhard  hier in München, in der JVA Stadelheim, wo ich mit Strafgefangenen arbeite. Ein Schwerpunkt meiner Arbeit dort das Mentoring – jeder Gefangene bekommt nach der Entlassung für 1 Jahr eine/n Mentor/in an die Seite gestellt. Ich war und bin seit langem immer wieder Mentorin, außerdem leite ich einen Workshop für neue Mentoren und den Stammtisch der Mentoren.

Vor ein paar Tagen sprach ich mit einer lieben Kollegin (also auch Trainerin und Coach), die sehr engagiert einen jungen Mann betreut, der seit einigen Monaten wieder in Freiheit ist. Ein sehr betreuungsintensiver junger Mann. Meine Kollegin, nennen wir sie Beate, steht mit ihm und auch seiner Lebensgefährtin in engem Kontakt.

Vor ein paar Tagen passierte wieder einmal das, was uns immer mal wieder passiert: Die Lebensgefährtin meldete sich panisch bei Beate, der junge Mann hat sich wieder etwas zu schulden kommen lassen und sitzt in U-Haft. Kurze Zeit später kam zwar die Nachricht, der Richter hätte ihn inzwischen wieder entlassen…aber nun sei er wie vom Erdboden verschwunden und meldet sich nicht.

Die Freundin war in großer Sorge, weil er einmal andeutete: Er würde nie mehr in den Knast gehen, eher würde er sich etwas antun.

Die Mentorin Beate war stark involviert in dieser Nacht – letztendlich ist alles gut gegangen, der junge Mann ist wieder daheim und hat sich auch bereits mit der Mentorin getroffen. Trotzdem hat sie das Ganze natürlich enorm beschäftigt und mitgenommen.

Wichtig erscheint mir hier vor allem ein Satz:

Es ist seine Verantwortung!

Wir sind verantwortlich für eine möglichst gute Begleitung durchs Mentoring – wir sind aber nicht verantwortlich dafür, dass sich ein Mentée unter Umständen nicht helfen lassen möchte, eine klare Entscheidung in die eine oder andere Richtung trifft!

Eine Mentorin sagte einmal: „Wenn ich neben meinem Schützling stehe und da vorne ist ein Abgrund….dann muss ich ihn doch davon abhalten, da runter zu springen!“

Meine Antwort war deutlich: Nein! Das ist nicht Dein Job. Dein Job als Mentorin, Unterstützerin ist es, ihn darauf hinzuweisen: „Guck mal, da vorne ist ein Abgrund. Wenn Du in diesem Tempo ohne zu bremsen weiterrennst, wirst Du abstürzen!“

Dies ist aus zwei Gründen so wichtig:

  1. Die Jungs lernen 20 Wochen lang im Kurs: Eigenverantwortung!! Jeder ist für sein Denken, sein Fühlen und Handeln selbst verantwortlich. Jeder ist in der Lage, die Verantwortung für sein Leben (wieder) zu übernehmen. Nicht die Umstände sind schuld, nicht die familiäre Situation oder die anderen. ICH selbst bin verantwortlich für das Wohl und Wehe in meinem Leben.
  2. Außerdem dient diese  Haltung auch der Selbstfürsorge, so schützt sich der Unterstützer, sieht und wahrt die Grenzen seines Wirkens.

Warum schreibe ich dies hier? Nicht nur, um Ihnen wieder einmal Einblick in meine Leonhard Arbeit zu bieten wie schon zuvor einige Male. Nein, ich finde das auch für unser eigenes Leben immens wichtig! Eigenverantwortung! In beide Richtungen: Wir haben die Verantwortung für unser eigenes Leben und wir gestehen dem anderen zu, dass er für sein Leben die Verantwortung übernimmt.

  • Ich habe in der Partnerschaft die Verantwortung dafür, Wünsche zu äußern. Mein Partner hat die Verantwortung dafür, ob er ihnen entsprechen möchte oder nicht.
  • Ich kann einer Freundin, der es grad sehr schlecht geht, meine Hilfe anbieten. Anbieten ist nicht aufdrängen: Sie hat die Verantwortung dafür, ob sie diese Hilfe annehmen mag oder nicht.
  • Ich kann kündigen, weil mir vieles an meinem Job nicht mehr passt. Ich übernehme dann aber auch die Verantwortung für die Konsequenzen.

Gerade in helfenden Berufen ist dies m.E. ein Hauptbestandteil professioneller Arbeit. Dem anderen seine Verantwortung überlassen. Sie ihm nicht abnehmen wollen. Und ihn für fähig und stark genug halten, dass er diese Verantwortung tragen kann.

Eine letzte Geschichte dazu, die 20 Jahre her ist, sich mir aber eingebrannt hat: Während meiner Familientherapie Ausbildung hatten wir regelmäßig Supervision. Eines Tages erzählte eine Kinderärztin, die diese Ausbildung machte, völlig panisch und in Tränen aufgelöst von einem jungen Mädchen in ihrer Praxis. Sie kennt sie schon lange und das Mädchen hat seit Jahren massive Essstörungen. Inzwischen war es so schlimm, dass sie bereits 2x in der Klinik wiederbelebt und zwangsernährt werden musste. Die Ärztin war verzweifelt:

Mein Gott, ich muss ihr doch irgendwie helfen können!

Wir anderen aus der Ausbildung ließen uns schnell von der Panik anstecken, einige fingen auch an zu weinen, andere versuchten, auf Lösungen zu kommen.

Unser Ausbilder hörte ziemlich lange nur zu … und dann sagte er diesen einen Satz:

Und wenn das Mädchen irgendwann beschließt, nicht mehr weiterleben zu wollen – dann ist das ihre Entscheidung!

Peng! Das saß! 2 aus dem Kurs beendeten danach die Ausbildung, weil sie es nicht ertragen konnten, so zu denken … also nicht retten zu können bzw. zu dürfen.

Mir hat der Satz die Augen geöffnet und er begleitet mich seitdem als Mahnung und Stütze. Ich bin nicht verantwortlich dafür, wenn sich Freunde im Privatleben oder Coachingklienten im Beruf nicht helfen lassen möchten!

Danke fürs Dranbleiben, das war ein langer Blogartikel!